Frauenfußball: Warum reißen sich Frauen häufiger das Kreuzband?

Der Schockmoment ereignet sich in der 36. Minute. DFB-Kapitänin Giulia Gwinn verhinderte im letzten Moment den Schuss der polnischen Stürmerin Ewa Pajor, die allein auf Torhüterin Ann-Kathrin Berger zudribbelte. Diese Rettungstat musste die 26-Jährige allerdings teuer bezahlen. Wegen einer Innenbandverletzung bleibt der EM-Auftakt Deutschlands gegen Polen das einzige EM-Spiel der Kapitänin.
Ein kleiner Trost: Es ist kein Kreuzbandriss. Als Gwinn humpelnd und unter Tränen den Platz verließ, war die Sorge bei nicht wenigen groß, dass die Verteidigerin sich zum dritten Mal in ihrer Karriere das Kreuzband gerissen haben könnte.

Sie kann nur noch am Rand zusehen: DFB-Kapitänin Giulia Gwinn hat sich eine Innenbandverletzung zugezogen.
Quelle: Sebastian Christoph Gollnow/dpa
Es ist insbesondere im Frauenfußball ein leidiges Thema. Der DFB muss bei der EM in der Schweiz auf Mittelfeldspielerin Lena Oberdorf verzichten. Zwar zog sich die 23-Jährige schon vor einem Jahr einen Kreuzbandriss zu und ist inzwischen wieder im Training. Und doch wäre das Risiko für Trainer Christian Wück zu groß gewesen. Schließlich hat Oberdorf seit ihrer Verletzung kein Pflichtspiel mehr absolviert. Auch Verteidigerin Bibiano Schulze Solano wäre wohl sicher im EM-Kader gewesen, wenn sie sich nicht im Februar die folgenschwere Verletzung zugezogen hätte.
„Es ist beunruhigend, dass wir in einer Welt leben, in der man verkünden muss, dass es kein Kreuzbandriss ist“, schrieb die niederländische Nationalspielerin Vivianne Miedema bereits vor zwei Jahren in einem Gastbeitrag für das Portal The Athletic.

Vivianne Miedema ist wieder voll im Saft. Im ersten EM-Spiel der Niederländerinnen gegen Wales steuerte sie einen Treffer bei.
Quelle: IMAGO/Steinsiek.ch
Die Oranje-Rekordtorschützin verpasst die WM 2023 wegen eines Kreuzbandrisses. Und damit ist sie nur eine von etlichen Namen auf der Liste mit den unheilvollen drei Buchstaben: ACL (Anterior Cruciate Ligament – z. dt. vorderer Kreuzbandriss). Kaum eine Spielerin ist bisher ohne Blessur an den Knien durch ihre Karriere gekommen. Die New York Times beschrieb das Ganze sogar als „Epidemie“.
Auch im Männerbereich gibt es zwar immer wieder schwere Kreuzbandverletzungen. Doch inzwischen ist wissenschaftlich belegt, dass Frauen wesentlich öfter betroffen sind. Studien zufolge reißen sich Frauen fünf- bis siebenmal häufiger das Kreuzband als ihre männlichen Kollegen – auf tausend Spielstunden gerechnet. Woran liegt das?
Die fehlende Professionalisierung ist noch immer einer der Hauptgründe für die schlimmen Verletzungen. Zwar arbeiten in der Frauen-Bundesliga immer mehr Klubs unter professionellen Bedingungen, doch angesichts der Gehälter ist es für die meisten Spielerinnen noch immer unerlässlich, sich auf einen zweiten Berufsweg vorzubereiten.
Dr. Henning Ott hat als Mannschaftsarzt bereits für U-Nationalmannschaften des DFB, Eintracht Frankfurt und die TSG Hoffenheim gearbeitet, inzwischen ist er in anderen Sportarten unterwegs. Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), berichtet der Sportmediziner von dem engen Zeitplan der Hoffenheim-Spielerinnen, die er bis 2015 betreute. „Da blieb keine Zeit mehr, um noch extra Krafteinheiten zu machen“, sagt er. Stattdessen mussten die Spielerinnen nach dem Haupttraining vorrangig Nebentätigkeiten nachgehen, um ihr Geld zu verdienen. Für Ott steht daher fest: „Die Professionalisierung des Frauenfußballs ist ein Muss“.

2013 haben sich die DFB-Frauen den letzten großen Titel gesichert. Nun will Bundestrainer Christian Wück bei der Europameisterschaft neu angreifen. Wer ist zum ersten Mal dabei? Und was macht die Spielerinnen aus?
Doch das bringt neue Probleme mit sich. Das Spiel der Frauen wurde in den vergangenen Jahren schneller und anspruchsvoller, die Spielpläne werden insbesondere aus Vermarktungsgründen umfangreicher. Im Jahr 2023 fand die WM erstmals mit 32 Teams statt, im September darauf startete zum ersten Mal eine Nations League.
Welche negativen Auswirkungen das haben kann, zeigt das Beispiel des FC Arsenal. Mit Miedema, Beth Mead, Leah Williamson und Laura Wienroither rissen sich gleich vier Spielerinnen in der Saison 2022/23 das Kreuzband, obwohl sie bereits unter besten Bedingungen trainieren. „Je schneller der Fußball wird, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit für einen Kreuzbandriss“, erklärt Ott. Auch, weil die „Trainingssteuerung die Besonderheiten der Frauen häufig noch zu wenig berücksichtigt.“

Auch die Kapitänin der Lionesses, Leah Williamson, verpasste die WM 2023 wegen eines Kreuzbandrisses.
Quelle: Getty Images
Dazu zählt zum einen die unterschiedliche Anatomie von Männern und Frauen. Das weibliche Becken ist etwas breiter, wodurch die Beine tendenziell eher x-förmig zueinanderstehen. „Frauen haben ein anderes Schuss- und Landeverhalten und springen mehr ins gestreckte Bein“, erklärt Ott. Zudem belasten Frauen ihre Beine beim Laufen von Kurven lediglich einseitig, während Männer beide Beine beanspruchen. Durch das fußballspezifische Training werde außerdem vorrangig der vordere Oberschenkel beansprucht, und der hintere vernachlässigt. Bedeutet: Ist der vordere Oberschenkelmuskel wesentlich ausgeprägter als der hintere, wächst die Wahrscheinlichkeit für einen Kreuzbandriss.
All das belastet in Summe die Kreuzbänder von Frauen wesentlich mehr als die der Männer – in diesen Punkten sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich einig.
Komplizierter wird es, wenn es um den weiblichen Zyklus geht. Kurz vor dem Eisprung komme es häufiger zu Verletzungen, da das Gewebe dann weicher sei, erklärt Ott. Das legt auch eine Untersuchung der Universität Lincoln, die 2021 veröffentlicht wurde, nahe. Das Ergebnis: Von 156 untersuchten Verletzungen bei 113 Nationalspielerinnen traten doppelt so viele Muskel- und Sehnenverletzungen in der späten Follikelphase auf (kurz vor dem Eisprung) als in der frühen Follikel- oder Lutealphase (die Zeit nach dem Eisprung). Ob zyklusbasiertes Training oder die Einnahme der Pille das Risiko verringere, sei aber umstritten. „Es gibt dafür keine Evidenz“, sagt Ott.
Nach Ansicht des Sportmediziners sei es im Frauenfußball daher am wichtigsten, das Athletiktraining weiter anzupassen und zu optimieren. Nur so könne man präventiv etwas gegen die Verletzungen tun. „Frauen müssen mehr im Maximalkraftbereich arbeiten“, schlägt der Sportmediziner vor. Dabei sollte insbesondere die hintere Oberschenkelmuskulatur und der Rumpf intensiver in den Fokus genommen werden.
Auch die Veränderungen der Bewegungsabläufe, zum Beispiel bei der Landung nach einem Sprung, müssten verändert werden. Zyklusbasiertes Training sei seiner Erfahrung nach im Fußball eher schwierig, da es nahezu jedes Wochenende einen gleichwertigen Wettkampf gebe – anders als beispielsweise in der Leichtathletik, wo die Athletinnen auf wenige Höhepunkte pro Jahr hin trainieren.
Dr. med. Henning Ott
, Sportmediziner und Orthopäde
Viel sinnvoller sei seiner Meinung nach ein positionsbezogenes Training. „Müdigkeit ist das größte Risiko für Verletzungen“, erklärt der Mediziner. Die Mannschaft sollte bei den Übungseinheiten daher nicht nur in Torhüterinnen und Feldspielerinnen aufgeteilt werden, sondern in die verschiedenen Mannschaftsteile. So brauche eine Außenbahnspielerin eine andere Ausdauer und viel bessere „Wiederholungsfähigkeit als eine Innenverteidigerin“. Nach Aussage von Ott wäre diese Veränderung „der Schlüssel“, um das Verletzungsrisiko insgesamt zu verringern.
Und der Sportmediziner hebt noch einen weiteren Punkt hervor: Regeneration. Mindestens neun bis zwölf Monate dauere normalerweise der vollständige Heilungsprozess bei Männern. „Wegen des per se erhöhten Verletzungsrisikos sollten Frauen sich noch strenger an diesen Zeiten orientieren“, sagt Ott. Diese lange Regenerationszeit sei wichtig, um die Rate der Zweitverletzungen zu verringern. Laut Ergebnissen der Fifa-Study-Group zieht sich mindestens jede vierte Spielerin innerhalb kürzester Zeit einen weiteren Kreuzbandriss zu – was das Karriereende bedeuten kann.

Dieses Modell zeigt den Riss des vorderen Kreuzbandes.
Quelle: picture alliance / dieKLEINERT
„Es ist keine moderne Wissenschaft, dass Regeneration wichtig ist“, meint Ott. Das käme aber auch immer mehr bei den Trainern und Trainerinnen an. „In den Vereinen gibt es einen positiven Wandel“, berichtet er. Immer mehr Verantwortliche würden auf die endgültige Genesung ihrer Spielerinnen warten.
Neben den körperlichen Bedingungen gibt es aber auch noch einen anderen Faktor, der das Verletzungsrisiko beeinflussen kann: den Fußballschuh. Tizian Scharl, Doktorand vom Lehrstuhl für Biomechanik an der Universität Bayreuth, hat mit seinem Team herausgefunden, dass die Geschlechter eine unterschiedliche Reaktion auf Änderungen der Schuhkonditionen zeigen. In Kooperation mit dem Sportartikelhersteller Puma wollen Scharl und seine Kollegen einen Schuh entwickeln, der an den Fuß von Athletinnen und Athleten sowie an den Untergrund angepasst ist. Das soll das Verletzungsrisiko verringern.
Darüber hinaus fordern Mediziner und Spielerinnen Investitionen in Forschung, um mehr über die Ursachen herauszufinden. Der DFB setzte deswegen das „Knie-ABC“ ein, ein Präventionsprogramm, das der Münchner Orthopäde Leonard Achenbach für den Verband entwickelt hat. Sportlerinnen und Sportler sollen durch konkrete Hilfestellungen lernen, wie sie mehr Kontrolle über ihre Knie bekommen und ihre Reaktionsfähigkeit verbessern können. Im Handball werden dadurch fast 80 Prozent der Kreuzbandverletzungen vermieden, wie zwei Level-1-Studien ergeben haben.
Seit Juni läuft an der englischen Universität Kingston zudem eine Studie, die den Einfluss des Menstruationszyklus auf das Verletzungsrisiko im Spitzensport untersucht. In der von der Fifa finanzierten Untersuchung nehmen Fußballerinnen der englischen Erstligisten Chelsea FC und Fulham FC teil. Die Ergebnisse sollen nach Angaben der Forschenden zur Entwicklung von neuen Trainings- und Präventionsstrategien dienen.
Bis es so weit ist, wird es allerdings noch ein wenig dauern. „Die Forschung ist nicht ganz trivial“, meint Ott und erklärt damit, warum der Weg zu validen Ergebnissen so kompliziert ist. „Wir müssen uns bei Frauen mit ganz anderen Sachen beschäftigen.“
rnd