Asthma und Nahrungsmittelallergien: Warum sie sich im Laufe der Zeit verändern, ist geklärt

Allergien können sich bereits im Kindesalter entwickeln, aber auch erst im Erwachsenenalter, also mit 50 oder 60 Jahren. Bisher war unklar, welcher Mechanismus die Variabilität von Allergien im Laufe der Zeit beeinflusst. Manchmal klingen Allergien spontan in der frühen Kindheit ab, während andere plötzlich im Laufe des Lebens auftreten.
Neueste Erkenntnisse zeigen, dass die Entstehung von Allergien nur teilweise genetisch bedingt ist. Der auslösende Faktor ist vielmehr die Darmflora, die sich ab der Empfängnis bildet und in den ersten beiden Lebensjahren reift. Sie beeinflusst die Programmierung des Immunsystems – entweder schützend, wenn eine symbiotische Beziehung mit dem Individuum besteht, oder negativ, wenn die Darmflora nicht mit dem Wirt harmoniert, was zu einer erhöhten Anfälligkeit für allergische Erkrankungen in jedem Lebensabschnitt führt.
Nicht nur Genetik„Bis vor wenigen Jahren waren wir davon überzeugt, dass unser Schicksal als Allergiker ausschließlich von der Genetik abhängt. Aber es ist nicht nur unsere genetische Ausstattung, die bestimmt, ob wir mit einer Veranlagung zur Entwicklung von Allergien wie Asthma, Nahrungsmittelallergien und Neurodermitis geboren werden oder nicht, die uns nicht nur in der Kindheit betreffen, sondern zum ersten Mal im Erwachsenenalter oder sogar im Alter auftreten können. Der Schlüsselfaktor, der dabei ins Spiel kommt, ist die Darmmikrobiota, ein Ökosystem aus Milliarden von Mikroorganismen, das unser klinisches Schicksal diktiert, indem es entscheidet, ob und wann sich die Expression von Genen verändert, die uns für Krankheiten wie Allergien prädisponieren“, erklärt Vincenzo Patella , Präsident der Italienischen Gesellschaft für Allergologie, Asthma und klinische Immunologie (SIAAIC) und Direktor der Abteilung für Innere Medizin der Gesundheitsbehörde von Salerno.
Unser genetischer „Score“„Die Mikrobiota ist wie ein Pianist, der unsere genetische Partitur spielt: Befindet sie sich im Gleichgewicht mit ihrem Wirt, ist die Melodie harmonisch und der Körper funktioniert gut. Wird sie jedoch durch externe Faktoren gestört, die in unserer Evolution nicht vorhergesehen wurden, wie etwa die immer häufigere Anwendung von Kaiserschnitten, übermäßige Antibiotikaeinnahme, eine falsche Ernährung, Umweltverschmutzung oder Stress, wird die Melodie schrill und das Risiko, Allergien zu entwickeln, steigt“, sagt Alessio Fasano , ein international renommierter Wissenschaftler, der als einer der Ersten die Rolle der Mikrobiota entschlüsselt hat und damit das Verständnis allergischer Erkrankungen revolutioniert. Er ist Kinderarzt und Gastroenterologe am Massachusetts General Hospital in Boston, Professor für Pädiatrie an der Harvard Medical School und Professor für Ernährung an der Harvard T.H. Chan School of Public Health.
Die ersten 1000 Tage des LebensAus dieser Perspektive bestimmen die ersten 1.000 Lebenstage unsere Anfälligkeit für mögliche Veränderungen im Mikrobiom, die lebenslang Allergien auslösen können. Je besser die Mikrobiota in dieser Zeit mit dem Wirt im Einklang ist, desto geringer ist das zukünftige Risiko, Asthma und Nahrungsmittelallergien zu entwickeln und den „allergischen Marsch“ zu beginnen, der von einer genetischen Veranlagung zu einer ausgewachsenen Krankheit führt.
Dies geht aus zwei kürzlich in Annals of Allergy, Asthma & Immunology and Gut Microbes veröffentlichten Studien hervor. In diesen Studien wurde die wissenschaftliche Literatur analysiert. Dabei wurden Forschungsergebnisse und Belege zur Rolle der Mikrobiota während der Schwangerschaft und im Säuglingsalter berücksichtigt und gezeigt, wie wichtig die frühen Lebensphasen für die „Erziehung“ der Immunzellen sind, zwischen harmlosen Substanzen und potenziellen Gefahren zu unterscheiden.
ImmuntoleranzInsbesondere die von Fasano koordinierte Studie über Darmmikroben zeigt, wie bestimmte Bakterienarten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Immuntoleranz in den ersten 1.000 Lebenstagen spielen. „Insbesondere das verringerte Vorkommen von Bifidobacterium und bestimmten Clostridienstämmen wurde mit einem höheren Risiko für Nahrungsmittelallergien und atopische Erkrankungen in Verbindung gebracht. Diese Mikroorganismen produzieren kurzkettige Fettsäuren, die für die Stärkung der Darmbarriere und die Förderung der Reifung regulatorischer T-Zellen (Treg) unerlässlich sind, die unangemessene Immunreaktionen auf Nahrungsmittel verhindern. Im Gegensatz dazu haben Kinder mit Allergien oft ein Mikrobiom, das durch eine geringe Diversität und eine höhere Häufigkeit von Enterobacteriaceae gekennzeichnet ist, ein Zustand, der Entzündungen und Toleranzverlust fördert“, erklärt Fasano.
Und genau die Mikrobiota ist das zentrale Thema von Fasanos Vortrag, mit dem er den heute in Mailand stattfindenden Nationalkongress der Italienischen Gesellschaft für Allergologie, Asthma und klinische Immunologie (SIAAIC) in Zusammenarbeit mit der Weltallergieorganisation (WAO) eröffnet. Die weltweit führenden Experten diskutieren über Atemwegs-, Nahrungsmittel-, Haut-, Arzneimittel- und Hymenopterengiftallergien, mit einem Schwerpunkt auf schweren Formen wie Anaphylaxie und schwerem Asthma. Umweltverschmutzung und Klimawandel, zunehmend auftretende Risikofaktoren für allergische und immunologische Erkrankungen, stehen ebenso im Mittelpunkt der Debatte wie Strategien zur Bekämpfung der sich weltweit ausbreitenden Allergie-„Epidemie“. Dieser Trend stellt nicht nur eine wachsende klinische Herausforderung dar, sondern hat auch erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen und erfordert gezielte Präventions- und Interventionsinstrumente, beginnend in den frühen Lebensphasen.
Allergien und ältere Menschen„Allergien haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einer wahren globalen Epidemie entwickelt. Die Zahl der Erkrankungen wie Rhinitis, Asthma, Neurodermitis und Nahrungsmittelallergien nimmt in allen Altersgruppen, insbesondere in den Industrieländern, stetig zu“, stellt Patella fest. „Schätzungen zufolge leidet heute mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung an irgendeiner Form von Allergie, wobei insbesondere bei Kindern ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist. In unserem Land leiden 10 % der unter 18-Jährigen an Asthma, 6–8 % der Kinder an Nahrungsmittelallergien und 10 % an Hautallergien“, erklärt er. „Bei den Erwachsenen leiden 5 % der Bevölkerung an Asthma, 3 % an Nahrungsmittelallergien, 10 % an Hautallergien und 15–20 % an allergischer Rhinitis. Hinzu kommen alle Patienten, die an allergischen Reaktionen auf Medikamente leiden. Diese machen etwa 10 % aller in Italien gemeldeten unerwünschten Arzneimittelwirkungen aus, wobei Reaktionen auf das Gift von Hautflüglern, Bienen und Mücken zu den häufigsten gehören. Die Prävalenz allergischer Erkrankungen, beispielsweise gegen Wespen und Hornissen, liegt bei etwa 3 %. Ungefähr 30 % der Bevölkerung können an mehreren allergischen Erkrankungen leiden. Dieser Zustand verschlimmert die Schwere der Symptome erheblich und macht sie hartnäckiger und schwieriger zu behandeln. Folglich werden die Therapien komplexer und erfordern oft kombinierte und langwierige Behandlungen, was erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems hat“, betont Patella.
Ältere Menschen sind stärker gefährdetÄltere Menschen haben ein höheres Risiko, Allergien zu entwickeln, die sich nicht nur verschlimmern, sondern auch später im Leben erstmals auftreten können. „Mit zunehmendem Alter verändert sich das Immunsystem, beispielsweise durch die Immunseneszenz, die eine unausgewogene Reaktion auf Allergene verstärken kann. Wenn wir also von Anfang an mit einer Dysbiose der Mikrobiota in jungen Jahren im Nachteil sind, erhöht das Alter das Risiko, auch im Alter allergische Reaktionen zu entwickeln“, bemerkt der SIAAIC-Präsident. „Die Bakterienflora älterer Menschen neigt dazu, weniger vielfältig zu werden, mit einer Abnahme nützlicher Arten wie Bifidobacterium und einer Zunahme entzündungsfördernder Bakterien. Die Folge ist eine verminderte Fähigkeit der Mikrobiota, die immunologische Toleranz zu fördern, und eine höhere Anfälligkeit für Allergien.“ Die stetige Zunahme allergischer Erkrankungen stellt daher heute eine globale Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Ein gründliches Verständnis der Mechanismen, durch die die Mikrobiota die Immunantwort beeinflusst, ist daher von höchster Bedeutung.
„Ziel ist es, innovative Strategien zu entwickeln, die auf Ernährung, Probiotika, Präbiotika oder gezielten Interventionen in den ersten Lebensmonaten oder sogar vor der Geburt basieren und das mikrobielle Gleichgewicht fördern und die immunologische Toleranz stärken können“, so Patella abschließend. „Dies wird dazu beitragen, die Allergieepidemie einzudämmen und die Lebensqualität von Millionen von Menschen zu verbessern. Gleichzeitig werden neue Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten geschaffen.“
La Repubblica