Alzheimer-Medikament Lecanemab kommt auf den Markt: Was es kann – und was nicht

Erst ist es ein Termin, den man vergisst, dann fehlt die Konzentration immer häufiger. Die Sprache lässt nach. Man erinnert sich phasenweise nicht mehr an Familie und Freunde – immer häufiger, immer länger. Die Persönlichkeit verändert sich. Bei Menschen, die an Alzheimer erkranken, bauen sich Nervenzellen im Gehirn allmählich ab. Oft passiert das über Jahre hinweg.
1906 wurde die Krankheit erstmals wissenschaftlich beschrieben. Heilbar ist Alzheimer bis heute nicht. Forschende sind seit Jahrzehnten auf der Suche nach geeigneten medikamentösen Therapien, um den langsam fortschreitenden Untergang der Nervenzellen irgendwie aufzuhalten. Ein großer Durchbruch ist bislang ausgeblieben. Doch es gibt neue Hoffnung.
Nicht, dass man ein Wundermittel gefunden hätte, welches die Alzheimer-Krankheit per se stoppen oder gar heilen könnte. Aber immerhin: Die EU-Kommission hat in diesem Frühjahr erstmals eine Alzheimer-Therapie zugelassen, die ab Montag, 1. September, in Deutschland auf den Markt kommt. Bereits Ende Februar hatte die Europäische Arzneimittelagentur EMA das Medikament empfohlen, das sich gegen manche Mechanismen und Ursachen der Alzheimer-Krankheit selbst richtet – und nicht nur Symptome im Verlauf lindert.

Der Wirkstoff heißt Lecanemab, der Handelsname Leqembi, entwickelt vom US-Unternehmen Biogen und dem japanischen Pharmaunternehmen Eisai. Die beiden Konzerne teilten nun mit, dass Leqembi an diesem Montag erstmals in der EU in den Verkauf gehen wird: in Deutschland und Österreich.
Lecanemab ist ein Antikörper, der Proteine im Gehirn, sogenannte Beta-Amyloid-Plaques, zunichte macht. Vereinfacht gesagt bewahrt er bestimmte Nervenzellen davor, durch diese Proteine zerstört zu werden. Das Fortschreiten kognitiver und funktioneller Defizite bei Erkrankten könne mithilfe der Therapie verringert werden, heißt es in der EMA-Stellungnahme. Was so viel heißt wie: Die Krankheit ließe sich zumindest ein Stück weit verlangsamen. Verabreicht wird der Antikörper vergleichsweise aufwendig: per Infusion direkt in die Vene, alle zwei Wochen.
Bei vielen Erkrankten und Angehörigen könnte diese Nachricht Hoffnungen wecken. Betroffen sind hierzulande immerhin rund 1,8 Millionen Menschen von Alzheimer. Mit einer zunehmend alternden Gesellschaft dürften es künftig noch weit mehr sein – denn das Alter selbst ist der größte Risikofaktor für Alzheimer. Nach Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft könnten in Deutschland im Jahr 2050 bis zu 2,7 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind, erkrankt sein.

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Lecanemab ist aber nicht für alle diese Erkrankten gleichermaßen gut geeignet. Fachleute aus der medizinischen Praxis rechnen damit, dass hierzulande nur rund zehn Prozent aller 250.000 jährlich an Alzheimer Erkrankten für eine Therapie mit Lecanemab überhaupt infrage kommen. „Ich warne dringend vor überzogenen Erwartungen“, sagte daher auch Josef Hecken, Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzten, Kliniken und Kassen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Bereits eingetretene Beeinträchtigungen können durch das Medikament nicht rückgängig gemacht und das Fortschreiten der Erkrankung kann nicht dauerhaft aufgehalten werden.“
Vor allem das Stadium der Erkrankung ist entscheidend: Für eine Behandlung in Betracht kommen nur erwachsene Patienten mit der klinischen Diagnose „einer leichten kognitiven Beeinträchtigung und einer leichten Demenz“, hält die EMA fest. Das heißt also: Das Mittel kann überhaupt nur wirken, wenn bei Erkrankten noch keine irreversiblen Schäden im Gehirn aufgetreten sind. Doch wer stellt das fest? Eine Diagnose und eine Aussage zum Krankheitsstatus können der Alzheimer-Gesellschaft zufolge nur erfahrendes ärztliches Personal sowie Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie stellen. Sogenannte Gedächtnisambulanzen sind besonders spezialisierte Einrichtungen zur Diagnostik und Therapie.
Der Abbau von Nervenzellen im Gehirn beginnt viele Jahre vor dem Bemerken erster Symptome. Es gibt zwar messbare Einschränkungen von kognitiven Fähigkeiten. Auf alltägliche Aufgaben wirken sie sich aber noch nicht aus. Meist ist das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Innerhalb von fünf Jahren entwickelt etwa die Hälfte der Betroffenen eine Demenz. Für die Abgrenzung ist eine genaue Diagnostik beim Arzt oder der Ärztin nötig.
Auch Erkrankte, die zwei Kopien des Gens Apo-E4 haben, sind von der EMA-Empfehlung ausgeschlossen. Rund 15 Prozent aller Menschen mit Alzheimer haben diese Genkopien. Schwerwiegende Nebenwirkungen wie Hirnblutungen wären bei ihnen wahrscheinlicher – ein zu hohes Risiko.
Auch wenn insgesamt weniger Nebenwirkungen auftraten als in Studien zuvor mit vergleichbaren Wirkstoffen: Bei 17 Prozent der Probandinnen und Probanden in der Zulassungsstudie kam es der Alzheimer Forschung Initiative zufolge zu Hirnschwellungen. Diese verliefen in den meisten Fällen zwar symptomlos, „allerdings müssen Hirnschwellungen engmaschig kontrolliert werden, damit es nicht zu gefährlichen Komplikationen wie einer Hirnblutung kommt“. Wer behandelt wird, braucht dann regelmäßig MRT-Untersuchungen.
Fachleute hierzulande gehen davon aus, dass auch weitere Personengruppen nicht für Lecanemab in Betracht kommen könnten. Etwa Menschen, die Blutverdünner nehmen oder die einen erhöhten Blutdruck haben, der nicht gut eingestellt ist. Bei ihnen wären Blutungsrisiken womöglich höher.
Auch Frauen könnten von Lecanemab weniger profitieren, weil bei ihnen der Effekt des Antikörpers geringer ausfallen könnte. Dabei sind rund 60 Prozent der an Alzheimer Erkrankten Frauen. So zumindest erklärte es Linda Thienport von der Alzheimer Forschung Initiative im Gespräch mit dem Science Media Center. Dafür gibt es Hinweise aus einer klinischen kontrollbasierten Phase-3-Zulassungsstudie, die der Hersteller bei der EMA eingereicht hatte. Teilgenommen hatten daran 1795 Personen mit leichter Alzheimer-Demenz, über 18 Monate hinweg wurden sie untersucht.
„Die Diagnose, regelmäßige Behandlungen und Beobachtungen der Betroffenen sind aufwendig und kostspielig“, lässt das Science Media Center Germany wissen. So muss Hersteller Eisai sicherstellen, dass Leqembi nur bei der empfohlenen Patientengruppe angewendet wird, es muss ein EU-weites Registers mit allen Patientinnen und Patienten geben und eine Sicherheitsstudie durchgeführt werden. Alles in allem viel Aufwand für ein Medikament, das teuer ist und nicht den erhofften Durchbruch brachte.

Erstmals wurde in Europa ein Medikament gegen Alzheimer-Demenz zugelassen. Der Chef des mächtigen Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzten, Kliniken und Kassen, Josef Hecken, begründet im RND-Gespräch, warum er das Arzneimittel zurückhaltend bewertet und warum es das Gesundheitswesen vor hohe Herausforderungen stellt.
Wenzel Glanz, Leitender Arzt Gedächtnissprechstunde an der Universitätsklinik für Neurologie in Magdeburg, bezeichnet Lecanemab als „Meilenstein”, der „uns aber gleichzeitig vor große organisatorische und infrastrukturelle Herausforderungen“ stelle. Er hofft, dass es bald spezifische Infusionszentren geben wird, damit die Versorgung der Patientinnen und Patienten auch in abgelegeneren Gegenden möglich ist.
„Lecanemab ist kein Wundermittel“, resümierte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Die Studiendaten legten aber nahe, dass Betroffene in einem frühen Erkrankungsstadium mithilfe von Lecanemab rund ein halbes Jahr Lebenszeit gewinnen könnten, wo sie in einem ganz frühen Stadium der Demenz verbleiben. „Das an sich ist schon ein Wert“, erläuterte Berlit. Für einen begrenzten Personenkreis sei die Zulassung also durchaus eine gute Nachricht.
Man wolle im medizinischen Bereich auch mehr Erfahrungen mit solchen monoklonalen Antikörpern sammeln, was durch eine EU-Zulassung überhaupt erst möglich werde, sagte Berlit. Zumal es Nachbeobachtungsstudien zu Lecanemab brauche, um die Effekte nach einem Untersuchungszeitraum von 18 Monaten zeigen. „Es ist völlig klar: Wir brauchen Medikamente, die besser wirken.“ Und damit auch mehr Studien, um bessere Therapieansätze zu finden.
Lecanemab könne da ein Anfang sein. Man dürfe aber auch nicht vergessen: 45 Prozent aller Demenzerkrankungen ließen sich allein durch präventive Maßnahmen vermeiden oder hinauszögern. Berlit verweist auf eine Studie, die im vergangenen Jahr in der Fachzeitschrift „The Lancet“ erschienen ist und 14 Risikofaktoren ausgemacht hat, die statistisch gesehen häufiger zu Demenz führen. Dazu zählen beispielsweise schlechte Bildung, Schwerhörigkeit, Kopfverletzungen, Bluthochdruck, hoher Alkoholkonsum, Adipositas, Rauchen, Depressionen und psychischer Stress, soziale Isolation, Luftverschmutzung, körperliche Inaktivität und Altersdiabetes.
Wir haben diesen Artikel am 31. August 2025 zuletzt aktualisiert.
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